Aufmerksamkeit ist bekanntlich das kostbarste Gut in einer
Gesellschaft, die mit härtesten Medienbandagen arbeiten muss, um Kunden zu halten und zu
fangen. In Zeiten der Reizüberflutung wird die Schraube der Werbenden immer fester
angezogen, um den Blick des königlichen Kunden zu fesseln.
Trotz dieser fatalen
Gesetzmäßigkeit eines immer brutaleren Wettbewerbsstils, den Benetton letztlich nicht
erfunden, sondern nur bereichert hat, war dem Bundesgerichtshof dieser gnadenlose Kampf um
die Aufmerksamkeit letztlich doch zu viel. Presse- und Meinungsfreiheit reichten nach dem
höchsten Zivilgericht der Bundesrepublik nicht so weit, der Menschheit auch solche
Abbildungen zuzumuten.
Nun ist die Menschheit einiges gewöhnt, Elendsbilder
wurden spätestens seit dem Kinderhungersterben in Biafra zum ständigen Schatten der
Wohlstandsgesellschaften, aber richterliches Mitgefühl für Menschen hier zu Lande darf
man nicht vorderhand beklagen. Wer also im geschäftlichen Verkehr mit der Darstellung
schweren Leids von Menschen oder Tieren Gefühle des Mitleids ohne sachliche Veranlassung
zu Wettbewerbszwecken ausnutze, verlasse nach Auffassung des Gerichts, auch bei reiner
Imagewerbung, die guten Sitten. Gewerbetreibende dürften öffentlich zu gesellschaftlich
bedeutsamen Ereignissen Stellung nehmen, um ihre Bekanntheit im geschäftlichen Interesse
zu steigern. Anders falle die wettbewerbsrechtliche Beurteilung jedoch aus, wenn die
öffentliche Äußerung zur Auseinandersetzung über das Thema nichts Wesentliches
beitrage, sondern nur darauf abziele, beim Verbraucher eine mit dem Werbeunternehmen
solidarisierende Gefühlslage zu schaffen, die der Steigerung des Unternehmensprestiges
diene und damit letztlich kommerziellen Zwecken.
Die Argumentation ist schon jenseits
der juristischen Bewertung von der psychologischen Tatsachenlage her anfechtbar, weil die
Benetton-Werbung wie jede Schockwerbung auf heterogene Positionen einer entzweiten
Öffentlichkeit stößt. Ob danach mehr bunte Pullis und Schals verkauft werden oder gar
echte Solidarisierungen mit den hochmoralischen Schaumschlägern der Unmenschlichkeit
verbunden sind, ist zweifelhaft. Hier gilt nicht nur der alte Spruch, dass Werbende nie
wissen, welche Hälfte ihrer Werbekosten aus dem Fenster geworfen ist, sondern weiter
gehend, ob sich Werbung nicht in ihr Gegenteil verkehrt, wenn man den Kunden auf dem
falschen Fuß erwischt. Und schließlich: Gibt es in Zeiten von Pulp Fiction bis
Völkermord im Kosovo überhaupt noch echte Schocks, wie es die Surrealisten ersehnten?
Sind wir nicht längst gegenüber dem medialen Schrecken so anästhesiert, dass es uns
allein schockieren würde, wenn der allfällige Schrecken ausbliebe?
In seinem Urteil zu der Anzeige "H.I.V. POSITIVE"
ventilierte der Bundesgerichtshof diese Fragen nicht, sondern legte noch nach: Die
Werbeanzeige nutze nicht nur Mitleidsgefühle aus, sondern verstoße in grober Weise gegen
die Grundsätze der Wahrung der Menschenwürde, indem sie den AIDS-Kranken als
"abgestempelt" und ausgegrenzt darstelle. Einer Abstumpfung gegen die
Diskriminierung leidgeplagter Menschen und einer aufkeimenden Mentalität des
"Abstempelns" müsse auch im Wettbewerbsrecht entgegengewirkt werden.
Kein verfassungsrechtlich
verbürgtes Grundrecht des Zeitgenossen auf Unberührtheit gegenüber dem Elend dieser
Welt
Das Bundesverfassungsgericht hat nun dieser einseitigen Hermeneutik in seiner Entscheidung über die
Verfassungsbeschwerden des Verlags "Gruner + Jahr" vom 12.12.2000 eine
gründliche Absage erteilt. Vorab gelte, dass es sich bei Benettons Schockern um
sprechende Bilder handelt, die den Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit genießen. In
der Systematik der Grundrechtsprüfung geht es also lediglich um Einschränkungen, die
grundsätzlich einer Rechtfertigung durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange oder
schutzwürdige Rechte Dritter bedürfen. Das gilt nach Auffassung des Gerichts für
kritische Meinungsäußerungen zu gesellschaftlichen Fragen in besonderem Maße.
"Dass möglicherweise die Verbraucher an
"positive" Bilder eher gewöhnt sind als an Appelle an das Mitleidsgefühl
rechtfertigt es nicht, letzteren belästigende Wirkungen zuzuschreiben. Auch Gemeinwohlbelange sind nicht betroffen. Es lässt sich
nicht feststellen, dass Werbung, die inhumane Zustände und Umweltverschmutzung
anprangert, Verrohungs- oder Abstumpfungstendenzen in unserer Gesellschaft fördern
würde.
Andererseits greift das Verbot schwerwiegend in die
Meinungsfreiheit ein. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Anzeigen der Firma Benetton
zur Auseinandersetzung über die von ihnen aufgezeigten Missstände nichts wesentliches
beitragen. Auch das bloße Anprangern eines Missstandes steht unter dem Schutz des Art. 5
Abs. 1 GG und wird durch den Werbekontext nicht in Frage gestellt."
Die Kernaussage des Verfassungsgerichts lautet: Ein vom
Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der
Staat Grundrechtspositionen einschränken darf. Freilich hat das Bundesverfassungsgericht
damit nicht sämtliche Fälle zukünftiger Schockwerbung entschieden, weil zugleich
festgestellt wird, dass es anders zu beurteilen sein könnte, wenn Ekel
erregende, Furcht einflößende oder jugendgefährdende Bilder gezeigt werden. Websites wie
www.rotten.com mögen sich also vorsehen. Zumindest eine hochmoralische Quintessenz wurde
von den Verfassungsrichtern ermittelt: Es gibt kein verfassungsrechtlich verbürgtes
Grundrecht des Zeitgenossen auf Unberührtheit gegenüber dem Elend dieser Welt.
Das Bundesverfassungsgericht erkennt in der heutigen
Werbung das Bestreben, durch gefühlsbetonte Motive Aufmerksamkeit zu erregen und
Sympathie zu gewinnen. Kommerzielle Werbung mit Bildern, die mit suggestiver Kraft
libidinöse Wünsche wecken, den Drang nach Freiheit und Ungebundenheit beschwören oder
den Glanz gesellschaftlicher Prominenz verheißen, sei allgegenwärtig. Es möge
zutreffen, dass der Verbraucher diesen Motiven gegenüber "abgehärtet" sei. Ein
solcher Gewöhnungseffekt rechtfertige es jedoch nicht, einem Appell an das bisher weniger
strapazierte Gefühl des Mitleids belästigende Wirkungen zuzuschreiben.
Das ist indes nicht
ganz konsequent, weil die Reaktionen der Kläger und der Öffentlichkeit offensichtlich
dafür sprechen, dass sich Menschen durch Benettons Bilderwelten erheblich belästigt
fühlen. Immerhin teilte der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft ZAW e.V. mit,
über das von der Firma Benetton veröffentlichte Anzeigenmotiv "H.I.V.
POSITIVE" hätten sich beim Deutschen Werberat 289 Personen beschwert. Dies sei mit
Abstand die höchste Zahl von Beschwerden, die den Deutschen Werberat je in Bezug auf eine
einzelne Werbemaßnahme erreicht hätten.
Aber belästigt nur Benetton oder nicht die ganze
aufdringliche Werbung, die inzwischen wie eine bunte Seuche durch Medien und urbanen Raum
zieht und noch jeden Spielfilm der Privatsender in unverdauliche Fetzen haut? In
reizüberfluteten Gesellschaften ist Belästigung ja geradewegs zur
"Verkehrsform", zum sozialadäquaten Kommunikationsstil zwischen Unternehmen und
Kunden geworden. Die Frage wäre eher soziologisch zu stellen, wie viel geistige
Umweltverschmutzung durch Aufmerksamkeitsfänger eine Gesellschaft überhaupt noch
verkraftet.
Das Verbot beeinträchtigt nach richterlicher Auffassung
jedenfalls die Meinungsfreiheit in schwer wiegender Weise. Die Anzeigen wiesen auf
gesellschaftlich und politisch relevante Themen hin und seien auch geeignet, diesen
öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. So würden die Kinderarbeiter in einer zwar
Mitleid erregenden, aber keineswegs abfälligen oder negativen Sicht dargestellt. Der
Werbekontext als solcher reiche für eine Verletzung menschlicher Achtungsansprüche nicht
aus. Selbst im Fall der "H.I.V. POSITIVE-Werbung" würden die Opfer nicht
abgestempelt. Dass damit der skandalöse, aber nicht realitätsferne Befund einer
gesellschaftlichen Diskriminierung und Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter bekräftigt,
verstärkt oder auch nur verharmlost würde, wollte sich dem Gericht nicht aufdrängen.
Mindestens ebenso nahe liegend sei die Deutung, dass auf die Ausgrenzung
H.I.V.-Infizierter in anklagender Tendenz hingewiesen werden soll.
Die semiologische Vieldeutigkeit von
Aussagen, die etwa seit Umberto Ecos oder Roland Barthes Ausflügen in die Bilderwelten
von Werbung und Politik vorausgesetzt werden darf, bestimmt nicht erst seit dieser
Entscheidung des BVerfG die Verfassungsinterpretation, sondern hat schon zuvor
angefeindete Kunstwerke vor dem staatlichen Zugriff bewahrt. Danach könne nach Aussage
des Gerichts mit dem Foto auch beispielsweise für einen AIDS-Kongress geworben werden.
Benettons Bildsprache sei zwar reißerisch und in einem konventionellen Sinne ungehörig.
Allein daraus lasse sich aber weder Zynismus noch eine affirmative Tendenz ablesen. Die
Darstellung sei, dem Medium einer Werbeanzeige entsprechend, darauf angelegt, die
Aufmerksamkeit des Betrachters zu fesseln.
Nun könnte man dem mit dem BGH entgegenhalten, dass der
Zynismus gerade darin liegt, den Kampf um die Aufmerksamkeit mit moralischen Positionen zu
gewinnen, die zum sozialethischen Standardrepertoire gehören, ohne dass die
Identifikation Benettons einem anderen Gewissen als dem des erfolgreichen
Gefühlsvermarkters entspringen würde. Benetton schwingt zwar die moralische Keule, aber
andererseits reicht das plakativ gewordene Elend dieser Welt offensichtlich nicht dazu,
karitative Großtaten folgen zu lassen. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht Recht
- wie auch anders? - , weil der Grundrechtsschutz aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht davon
abhängig gemacht werden kann, ob eine Äußerung rational oder emotional, begründet oder
grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos
gehalten wird.
Damit erweist sich das Verfassungsgericht in seiner
Interpretation als wirklichkeitsnäher und unkonventioneller als der Bundesgerichtshof,
dessen unbestimmter Rechtsbegriff der "guten Sitten" letztlich doch noch
erheblich vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden durchtränkt zu sein
scheint. Die Werbewelt ist zumeist heil gewesen und das öffentliche wie juristische
Ärgernis entstand durch den Einbruch der Weltübel in dieses Paradies des Waren-Menschen.
Aids und andere Menschheitsseuchen passen nicht gut zur prästabilierten Harmonie der
Reklame. Aus dieser Harmonie sind aber zuletzt justiziable Maßstäbe zu gewinnen.
Die Konditionen in der
aufmerksamkeitsgierenden Werbung sind mindestens so kompliziert geworden wie die
Verhältnisse im "wahren Leben"
Gleichwohl
möchte man sich nicht
leicht für diese oder jene Position entscheiden, da die Meinungsfreiheit zwar ein hohes
Verfassungsrechtsgut ist, aber die Sympathien für Benetton sich schon deshalb in Grenzen
halten, weil offen bleibt, ob die Herren überhaupt etwas meinen oder doch letztlich nur
verkaufen wollen. Nach der vom Verfassungsgericht zitierten Ansicht des Fotografen
Oliviero Toscani, des kreativen Vaters der Anzeigen, benutzt Benetton zwar die
Schockwerbung als "Vehikel, um eine antirassistische kosmopolitische und tabulose
Geisteshaltung" zu verbreiten. Indes macht das Statement klar, dass Werbung ein
paradoxes Geschäft ist. Denn die hehre Geisteshaltung von Benetton, dem
spätaufgeklärten Tabuverletzer, kombiniert sich problemlos mit dem banalsten
Kommerzinteresse.
Das Bundeskartellamt hat dann das Dilemma, an dem sich die
Gerichte mit so unterschiedlichen Resultaten abarbeiten mussten, auch auf den eigentlichen
Punkt gebracht: Für Bekleidung im unteren bis mittleren Preissegment sei Imagewerbung
nahe liegend und werde durch die Tendenz zu europa- oder weltweiten Vermarktungsstrategien
begünstigt. Man muss also sich und seine Meinung verkaufen, um überhaupt zu verkaufen.
Ob das schutzwürdig ist - jenseits des Problems schockierender Werbeinhalte - wäre also
die wahre Frage des Ketzers, die aber unter der Geltung des Grundgesetzes eben nicht
gestellt werden kann. Die Konditionen in der aufmerksamkeitsgierenden Werbung sind also
mindestens so kompliziert geworden wie die Verhältnisse im "wahren Leben".
Nun ist die Zukunft der Schockwerbung auch nach ihrer
höchstrichterlichen Billigung nicht gesichert. Denn wer hier wieder den Untergang der
guten Sitten, wenn nicht gar des Okzidents fürchtet, kann beruhigt werden. Die singuläre
Erscheinung des italienischen Textilimperiums wird nicht allzu viele Nachfolger auf den
Plan rufen, weil die Werbewirtschaft die Schockwerbung längst zum Auslaufmodell erklärt
hat. Das Vertrauen des Kunden könne darauf zuallerletzt gegründet werden. Was wiederum
beweisen würde, dass die Selbstheilungskräfte eines wild gewordenen Turbokapitalismus
nicht immer hinter den Sittenwahrern zurückstehen, sondern diese Gesellschaft auch und
gerade in der Werbung die beste aller möglichen ist.
Dr. Palm |